Der Realist

Ich habe mich immer als überzeugte Realistin eingeschätzt. Ich dachte, wenn ich die Dinge „realistisch“ betrachte, muss ich nie mit dem Schmerz oder der Enttäuschung einer Niederlage oder eines unerfüllten Traumes umgehen. Ich dachte, wie ich das mache, mach ich das gut! Deshalb habe ich mir auch nichts sagen lassen, habe nicht viel von Optimisten gehalten. Sie waren für mich verletzlich und überhaupt, waren sie bloß Träumer in meinen Augen.

Ich war aber eigentlich eine kleine Pessimistin. Ich habe mich gern mit traurigen Gedanken aufgehalten und mich mit Absicht in sie rein gesteigert. Damals dachte ich, ich müsse ihnen Aufmerksamkeit geben, um darüber hinwegzukommen und zu verarbeiten, sie auch als großes, dramatisches, leidenschaftliches Ding betrachten.

Dass ich keine Träume hatte, große Ängste vor Zukunft und Gegenwärtigem und viele, viele traurige Momente, habe ich nicht einmal gemerkt. Ich habe das alles als selbstverständlich angesehen.

Es musste so schlimm werden, dass ich in Ängsten und Selbstmitleid versank, damit ich endlich verstand: ich war nicht glücklich. Und das lag allein an mir.

Ging es mir einmal schlecht, begann ich fast schon automatisch in den Selbstmitleid-Gang zu schalten, dementsprechend geriet ich in eine Trauer-Spirale, die mich immer wieder zu dieser „einen schlimmen Erfahrung“ zurückbrachte, die mein Leben im Gegensatz zu Anderen so erschwerte (das sah ich damals so, es war schön sich hinter seinen Umständen zu verstecken). Ich begann mir selbst zu erzählen, weshalb mein Leben so schwer ist. Das hat mich, mich selbst stärker fühlen lassen, immer hin hatte ich ja so viel durchgemacht. Selbstmitleid war für mich ein Akt der Selbstliebe, der Anerkennung.

Doch was hat es mir gebracht? Ich kam nicht weiter und wenn ich dann mal gerade keine Probleme von Außen bewältigen musste, wusste ich gar nicht mehr, wer ich bin oder sein will, was ich will und was meine Träume sind. Ich hatte mir so angewöhnt für mich selbst „da zu sein“, dass ich gar nicht mehr wusste, wie ich mich überhaupt noch glücklich mache und dass ich das überhaupt tun muss.

Ich hatte mir ja auch nie erlaubt euphorisch zu sein, da Vorfreude und Euphorie mich nur verletzten würden, wenn etwas nicht funktioniert.

Ich habe nie gelernt, wie man gesund mit seinen Problemen umgeht. Ich hatte viele, Problem geplagte Menschen um mich und es hat mir damals gereicht, nicht so betroffen zu sein und so auf mich aufzupassen, dass das auch nicht passiert. Und in meinem Kopf war das nur durch viel Pflege und für mich da sein möglich. Probleme hat ja jeder, es ist normal, dass ich sie auch habe!

Als ich dann im letzten Jahr Menschen kennen lernte, die kaum Probleme haben, hat mich das mich ziemlich schlecht fühlen lassen. Anstatt etwas an mir zu ändern, verglich ich mich mit ihnen, wendete aber meine alten Strategien an und wusste nicht wieso ich mich so schlecht fühlte. Jeder hat doch Probleme, oder? Wie furchtbar respektlos, von diesen gut gelaunten Menschen. Sie haben keine Probleme, sie werden nie verstehen, was wir durchmachen.

Dabei verstehe ich jetzt, dass diese Menschen höchstwahrscheinlich auch ihre Schwierigkeiten im Leben hatten und dass es kein Zusammenhang zwischen Glück und Vergangenheit oder eignen Problemen geben muss. Es gibt sicherlich Menschen, denen wesentlich mehr Schlechtes widerfahren ist als mir und diese Menschen schaffen es, durch ihre Einstellung, trotzdem den Kopf oben zu behalten. Es ist die Einstellung, die zählt, der Blick auf die Dinge, die dir geboten werden im Leben. Dein eigener Filter, welche Gedanken du zulässt und welche nicht.

Gedanken können deine Lebensqualität erheblich beeinflussen. Das weiß ich jetzt auch.

Nun vertrete ich, als früher überzeugter Realist die Ansicht: Der sogenannte Realist ist oft unglücklich und antriebslos. Ein bisschen Träumer muss in Jedem stecken.

Wir denken, dass Optimismus und Pessimismus essenzielle Charaktereigenschaften sind, deshalb halten wir an ihnen fest, weil wir uns stark dadurch definieren. Wir denken diese Einstellung sei Teil unserer individuellen Persönlichkeit und hinterfragen sie deshalb sehr ungern, auf Gedankenanstöße reagieren wir gereizt oder verständnislos. Dabei sind es Lebensstile, die dementsprechend maßgeblich unsere Lebensqualität beeinflussen. Es sind Lebensstile, die wir als Gewöhnung etabliert haben.

Als Pessimist ist man eben daran gewöhnt pessimistisch zu sein, gewisse Gedankenmuster zu haben und schnell negativ zu denken. Wir sind irgendwann überzeugt, dass das wir sind. „So bin ich halt“. Es fällt dadurch auch wesentlich schwerer, seine Gedanken zu verändern. Meistens kommen wir aber nicht mal so weit, dass wir unsere Gedankengänge hinterfragen.

Dabei ist Gedankenqualität Lebensqualität.

Deshalb ist es wichtig, Gedankenhygiene zu pflegen, sich bewusst positive Gedanken zu implizieren und sich eine bestimmte Sicht auf die Welt anzutrainieren.

Die Gewissheit, dass man sein kann, wer man will, ist sehr machtvoll. Die Qualität deines Leben liegt in deinen Händen.

Mittlerweile habe ich verstanden, dass ich mit Misserfolgen, gescheiterten Projekten oder Plan Änderungen schlecht umgehen kann und das abtrainieren sollte. Außerdem fing ich an zwei Konzepte zu verstehen: Das der selbst-erfüllenden Prophezeiung und die der Abgrenzung, der „personal boundaries“, dazu kommt bald mehr. Heute empfinde ich Selbstmitleid als eine Form des Selbsthasses, man begibt sich in eine Opfer-Rolle, oft verbunden mit heimlicher Selbstgerechtigkeit. Man bleibt lieber in einem Zustand des Selbstmitleids, als selbstverantwortlich zu handeln. Anstatt nach Auswegen zu suchen, suchen wir Gründe, weshalb wir zu einem Problem gekommen oder daran gescheitert sind. Eine sehr bequeme Art, sein Schicksal in die Hände Anderer zu geben. Es hat lange gebraucht, bis ich das verstanden habe.

Ich bin nun lieber ein Träumer, als gefangen in meinen eigenen Regeln und meiner Trostlosigkeit. Ich weiß, wer ich bin und was ich will.

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